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Vielleicht habt Ihr von den Unruhen in unserer Region gelesen oder in den Nachrichten die Bilder von den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten in Varnsdorf am 10.9.2011 gesehen. Es fällt mir schwer zu beschreiben, was hier geschieht, auch wenn wir ständig darüber reden, diskutieren, nachdenken, die Zeitungen voll davon sind. Zu widersprüchlich sind die Informationen, zu unwirklich, was wir gerade erleben. Auslöser war eine nächtliche Schlägerei zwischen Jugendlichen am 21.8. in Rumburg. 

 

20 Roma haben 4 „weiße“ Jugendliche bis in deren Hausflur verfolgt, dabei die Tür eingeschlagen und einen der anderen Gruppe schwer verletzt. Von offizieller Seite heißt es, dass die Roma Jugendliche aus rassistischen Motiven „massakriert haben“ (so der Leiter der Rumburger Polizei). Von Seiten der Roma ist zu hören, dass Streitigkeiten um Drogen und ein Angriff der „weißen“ Jugendlichen auf einen der Roma voraus gegangen waren – aber diese Darstellung gelangt nicht in die Medien.

Einen Tag später schreibt unser Bürgermeister in einem offenen Brief an den Innenminister, dass man in Rumburg selbst hinter der eigenen Haustür nicht mehr sicher ist und sich nach Einbruch der Dämmerung nicht mehr auf die Straße trauen kann. Und dass daran die Roma schuld sind, die in den letzten Monaten zu Hunderten zugezogen sind – sogenannte „Nicht-Anpassungsfähige“. (Ob und wie viele tatsächlich zugezogen sind, wo sie wohnen, weiß jedoch keiner so genau, und mittlerweilewird den Diskussionen kaum noch zwischen „alteingesessenen“ und zugezogenen Roma unterschieden.)

Und dann sehe ich im Internet ein Video von der Demonstration in Rumburg und einem anschließenden Marsch durch die Stadt am 26.8. und weine. Ich sehe „normale“ Einwohner, keine Nazis, sondern Leute, wie ich sie täglich auf der Straße treffe, Beamte, Eltern von Mitschülern unserer Kinder... Ich sehe, wie die Menge durch die Stadt zu vermeintlichen Roma-Häusern zieht, in den Gesichtern neben Aufgebrachtheit auch Begeisterung, so als wäre man froh, jetzt endlich laut sagen, herausschreien zu dürfen, was vorher auszusprechen ungehörig war. Es fallen Sätze, bei denen ein kalter Schauer über den Rücken läuft: „Zigeuner ins Gas!“ „Mit Hacke und Spaten auf sie!“ „Lebendig begraben!“

Und lange, lange keine Stimmen, die sich von diesem Vorgang distanzieren. Vergeblich suche ich nach einem Kommentar von Seiten der Stadt oder der hiesigen sozialdemokratischen Partei, die ursprünglich zu dieser Demonstration eingeladen hatte.

Manchmal muss ich mir dieses Video von Neuem ansehen, um zu glauben, dass das wahr ist. Die Sondereinsatzkräfte, von denen nun etwa 300 in der Region stationiert sind, sind im Alltag kaum zu sehen. Auf der Straße wirkt alles normal. Und doch bricht das Unnormale so manches Mal wieder in den Alltag ein. Wenn unser 11-jähriger Sohn fragt, ob er an einem Roma-Haus vorbeigehen darf oder lieber einen anderen Weg nehmen soll, „damit die Leute nicht denken, er wolle jemanden provozieren“, dann verrät dies die tiefe Verunsicherung und Spannung, die auch die Kinder spüren.

Ich will den Zustand, der der jetzigen Eskalation vorausgegangen ist, nicht verharmlosen. Wir haben hier Kriminalität – wohl mehr als in anderen Regionen des Landes – es gibt hier Arbeitslosigkeit und auch den Missbrauch von Sozialhilfeleistungen, etliche Spielbars, Prostitution und Drogen. Gewiss gibt es auch Menschen, mit denen das Zusammenleben in einem Haus oder einer Straße sehr schwierig ist. Und im Zusammenhang damit wachsen Verärgerung und Wut, Ratlosigkeit und Angst unter den Menschen.

Erschreckend aber ist, wie einmütig die hiesige Gesellschaft ihren Sündenbock gefunden hat, der an allem die Schuld trägt, wie radikal sie nach einer gewaltsamen „Lösung“ der Probleme ruft. Erschreckend ist die Erkenntnis, dass für solch einen Ausbruch von Hass und Rassismus ein recht kleiner Impuls, ein wenig Übertreibung in den Medien und von Politikern, eine leichte, ganz leichte Abfälschungen der Wahrheit und einseitige Auslegung auszureichen scheinen. Erschreckend ist die Ahnung, dass Pogrome nicht unwahrscheinlich weit weg sind, sondern vorstellbar.

Inzwischen hat sich der Herd der Spannungen ins 10 Kilometer entfernte Varnsdorf verlagert, wo es derzeit mehrmals wöchentlich Demonstrationen und Märsche durch die Stadt gibt. Meist geht es mit rassistischen Parolen und Drohungen zu einem Roma-Wohnheim. Die Polizei, die ursprünglich in die Region gekommen ist, um der Kriminalität Einhalt zu gebieten, muss nun eher Roma-Unterkünfte vor Übergriffen schützen.

Die einfache Gleichung unter der Bevölkerung lautet: Kriminalität = Roma. Die Lösung: die Roma müssen weg – irgendwie. „Wir leben nicht mehr in Friedenszeiten, in denen wir es uns leisten könnten, über Integration nachzudenken.“ heißt es in dem oben erwähnten offenen Brief des Rumburger Bürgermeisters.

Dass – auch hier – längst nicht alle Straftaten von Roma begangen werden, dass es meist „weiße“ Tschechen sind, die Gestohlenes aufkaufen oder an der Um- und Ansiedlung von Roma verdienen, dass die Demonstrationen in Varnsdorf von jemandem organisiert werden, der den Staat als falscher Assistent eines Ministers um 2 Mill. Kronen betrogen hat ... all das scheint kaum jemanden zu interessieren. Rassismus wird als Kampf für Sicherheit und Gerechtigkeit deklamiert und so scheinbar zu etwas Legitimen und wer dagegen auftritt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Kriminalität und Unrecht zu verteidigen.

Es ist möglich, dass das Interesse der Medien bald nachlässt, die Demonstranten müde werden, die Sondereinsatzkräfte wieder abziehen. Der Hass zwischen den Menschen aber wird wohl nicht so leicht verschwinden. Dass es möglich ist, anderen lauthals den Tod zu wünschen und dafür Beifall zu bekommen, dass auch ihre Eltern dies gutheißen, wird so manchen Kindern im Gedächtnis haften bleiben. Das ist vielleicht das Schlimmste daran.

Anfang September haben wir uns mit Roma-Vertretern und Vertretern mehrerer gemeinnütziger Vereine und getroffen und überlegt, was wir in dieser Situation tun können. Es entstand eine Erklärung gegen Rassismus und Gewalt und die Initiative „Licht für die Region Schluckenau“ - friedliche Zusammenkünfte, die sich jeden Freitagabend an verschiedenen Orten der Region wiederholen sollen. Das erste Treffen fand am 9.9. in der evangelischen Kirche in Rumburg statt. Etwa 50 Leute kamen zusammen, sprachen über ihre Gefühle, drückten Trauer aus, baten um Hoffnung, beteten und zündeten Kerzen an.

Nein zu Rassismus und Gewalt zu sagen, ist eigentlich etwas Normales, in diesen Tagen in dieser Region jedoch nicht. Beim Unterzeichnen der Erklärung fragte einer der Roma, ob wir nicht Angst haben, wegen dieser Unterschrift unsere Arbeit zu verlieren. Einer der Moderatoren behauptete beim ersten Treffen „Licht für die Region Schluckenau“: „Es gehört Mut dazu, heute hierher in die Kirche zu kommen.“ Auch das erscheint mir heute mit ein paar Tagen Abstand unwirklich. Doch empfunden haben wir dies in dem Moment wohl alle so.

Uns ist klar, dass diese Treffen den Konflikt nicht lösen. Trotzdem scheint mir wichtig, dass inmitten so vieler hasserfüllten Rufe auch andere Stimmen laut werden, Raum bekommen und wir uns einander zeigen: wir sind nicht allein.

Rumburg, 16.9.2011

 SVĚTLO PRO ŠLUKNOVSKO
Licht für die Schluckenauer Region
občané Šluknovska proti rasismu a násilí / 
Bürger der Schluckenauer Region gegen Rassismus und Gewalt


PROHLÁŠENÍ / Erklärung


Jsme znepokojeni vývojem situace na Šluknovsku.
Wir sind beunruhigtvon der Entwicklung der Situation in der Region Schluckenau.
Odmítáme rasismus ve všech jeho projevech, násilí, zastrašování, princip kolektivní viny a jednostrannou a rasismus podněcující interpretaci situace v některých médiích.
Wir lehnen Rassismus in all seinen Formen ab. Ebenso lehnen wir ab: Gewalt, Bedrohung, das Prinzip kollektiver Schuld und eine einseitige und zum Rassismus anstiftende Interpretation der Situation in einigen Medien.
Vyzýváme ke koncepčnímu, dlouhodobému a nenásilnému řešení sociální situace a ke spolupráci měst a obcí s neziskovými organizacemi, jakožto zkušenými partnery a odborníky.
Wir rufen auf zu einer konzeptionellen, langfristigen und gewaltfreien Lösung der sozialen Situation und zur Zusammenarbeit der Städte und Gemeinden mit gemeinnützigen Organisationen als erfahrene Partner und Fachleute.
Chceme pokoj a naději pro všechny obyvatele Šluknovska.
Wir wollen Frieden und Hoffnung für alle Bewohner der Schluckenauer Region.


Pavel a Monika Lampovi, Dolní Poustevna
Robert Ferenc, Krásná Lípa
Albert Demeter, Rumburk
Filip a Constance Šimonovští, Rumburk
Marcela Surmajová, Horní Podluží
Hana Volfová, Krásná Lípa
Rostislav Souček, Rumburk
Roman Winter, Rumburk
Natálie Barcalová, Šluknov
Miroslav Řebíček, Krásná Lípa 

 

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